Gottes vierfacher Wille

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Das Wort Gottes sagt von sich selbst, dass es lebendig ist (Hebr. 4:12). Es lebt wie eine Person, d.h. es gibt immer wieder neues zu entdecken im Wort Gottes, weil im Worte Gottes sehr viel steckt, das nur zu entdecken ist, wenn es einem lebendig wird.

Steigen wir bei Röm 12: 1-2 ein. Hier ist die Linie der verschiedenen "Willen Gottes" erkennbar. Aus dem griechischen Urtext gehen gemäss Vers 2 vier "Willen Gottes" hervor:

...kai hä systematizesthe to aeoni touto alla
...und nicht passt euer Wesen an – dieser Welt, sondern

metamorphousthe tä anakainwsei tou noos eis to
lasst euch umgestalten durch die Erneuerung des Sinnes, dazu, dass

dokimazein hymas ti to thelema tou theou, to
beurteilen könnt ihr was (ist) der Wille -- Gottes, das

agathon kai euareston kai teleion.
Gute und Wohlgefällige und Vollkommene!

In einer ersten Stufe haben wir den Willen Gottes, in einer zweiten den guten Willen Gottes, in einer dritten den wohlgefälligen Willen Gottes und in einer vierten Stufe den vollkommenen Willen Gottes. Das Wort Wille ist geht auf das griechische thelema zurück, also auf einen abgeschlossenen Willen Gottes. Ein anderes Wort für Wille ist bulae. Es bedeutet Wille, Ratschluss (ein Wille, der aus einem Ratschluss entsteht, Wille aus Beratung). In Lukas 7:30 steht bspw.:

"... die Pharisäer aber und die Gesetzesgelehrten machten den Ratschluss (bulaen) Gottes für sich selbst wirkungslos, ..."

Aus einem Ratschluss kommend wollte Gott etwas Gutes für sie; sie haben diesen aber nicht angenommen. Sie sind nicht darauf eingestiegen. Stünde hier thelema, dann wäre das nicht möglich gewesen. Der Willen Gottes wäre einfach durchgesetzt worden.

Dass es verschiedene Willen Gottes gibt, ist uns Mitteleuropäern eher unbekannt. Wir lesen die Bibel mit den Augen eines humanistischen auf Perfektion fixierten Erziehers: "Du musst möglichst überall so gut wie nur möglich vollkommen sein." Den Perfektionismus saugen die Mitteleuropäer mit der Muttermilch ein; und auch die Erziehung ist darauf fixiert. Aufmerksame Menschen stellen sehr früh in ihrem Leben fest, dass die Forderung nach Perfektion kaum einlösbar ist. Wer sein Leben nüchtern reflektiert, kommt sogar zum Schluss, dass das "System" nicht stimmt. Und die Bibel bestätigt das in Röm 12:2 sogar explizit:

Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, ...

... kai hä systematizesthe to aeoni touto

...und nicht passt euer Wesen an dieser Welt

Das griechische suschmatizesqe "systematisieren" bringt es auf den Punkt. Wir sollen uns nicht diesem Zeitlauf, diesem Zeitalter "systematisieren" lassen, sondern

metamorphousthe

lasst euch verändern, umgestalten

Das griechische metamorphouste weist auf Metamorphose hin. Dieses Wort wird in der Regel mit Hilfe der Raupe erläutert. Wüssten wir es nicht, könnten wir es kaum glauben, dass aus einer Raupe ein wunderschöner Schmetterling werden kann. Es ist vorstellungsmässig nicht möglich. Das Wort "Metamorphose" deutet auf eine tiefe Veränderung hin. Es entsteht ein ganz anderes Werden. Es soll etwas von einem kriechenden in einen fliegenden Zustand gelangen. Es ist ein Wunder Gottes.

Wir sollen uns umgestalten lassen, eine Metamorphose weg von dem System durchleben, das wir mit der Muttermilch eingesogen haben, damit wir Gottes Willen in den vier Formen sehen und erfüllen können. Lasst euch nicht "systematisieren" heisst, dass wir aus dem System aussteigen sollen, speziell aus dem Denksystem dieses Zeitalters. Wir sollen uns umgestalten lassen durch die Erneuerung unseres Sinnes. Dabei handelt sich um den gesamten Empfindungs- und Umsetzungswilllen des Menschen, also um den Sinn. Gott fordert also eine Metamorphose unseres Denkens, Empfindens, Wollens.

Es gibt Situationen, in denen man Menschen raten sollte, bewusst nicht perfekt sein zu wollen (z.B. dass das Haus nicht top aufgeräumt sein muss, wenn jemand eingeladen ist). Solche Menschen werden freilich auch rückfällig. Doch die Menschen im Umfeld werden früher oder später feststellen, dass zwar die Qualität (der Arbeit) nicht mehr unverbesserlich perfekt ist, die Qualität der Person dadurch jedoch keine Abstriche erfährt. Der Effekt wird sein, dass auch Menschen im Umfeld dieser nicht mehr unverbesserlich vom Perfektionismus beherrschten Menschen vom Perfektionismus befreit werden.

Warum gibt es den vierfachen Willen Gottes? Man könnte mutmassen, dass Gott unserem Perfektionismus etwas entgegensetzen möchte. Gehen wir nun den vier Willen im Einzelnen nach.

1. Der Wille Gottes.

Nennen wird den ersten Willen den so genannten Basiswillen Gottes. Wo ist er erkennbar? In Matthäus 6:9 finden wir im "Vater Unser" den Satz

"... Dein Wille geschehe"

Das ist der Basiswille. Es wird darin noch nichts spezifisches gesagt. Es ist nicht bekannt, welche Art von Willen gemeint ist. Es wird Gott in diesem Gebet gewissermassen ein Blankocheck ausgestellt. In Matthäus 26:42 ringt Jesus selbst und gibt Gott den Basiswillen frei:

"Wiederum zum zweiten Mal ging er hin und betete und sprach: Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille".

Jesus ist ein sehr spezifischer Beter; aber es gibt Momente, bspw. in dem Moment, in dem er mit seinem Tode rang, wo er sagt: "Dein Wille geschehe" (... ich kann es nicht einordnen).

2. Der gute Wille Gottes.

Nach dem Basiswillen kommt der "gute Willen Gottes". Wo führt uns der gute Willen Gottes hin? Nach Matthäus 7:12 führt uns dieser Willen in einen gewissen Massstab hinein:

"Alles nun was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch; denn darin besteht das Gesetz und die Propheten". Wer ist in diesem Vers der Masstab?

Ich selbst bin in diesem Vers der Massstab.

Der "gute Willen Gottes" führt in den Massstab des eigenen Erkennens hinein. Ich bin der Massstab des guten Tuns, des guten Willens Gottes. Der gute Willen Gottes zeigt Dir auf, wo Du der Massstab des "guten Tuns" bist.

Auch im Röm. 13:9b und 10 wird dieser Masstab klar:

"... und wenn es ein anderes Gebot gibt, ist es in diesem Wort zusammengefasst: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes."

Es ist eine relativ einfache Aussage. Man muss sich nicht viele Gedanken machen, sondern schaut einfach, was man selbst gerne möchte. Die Wortwurzel im Deutschen von Gott kommt von gut. Gott – gut. Im Prinzip heisst es "der Gute". Prinzipiell ist es für jeden einleuchtend, dass man in dem Masse Gutes empfängt, wie man selbst anderen Gutes zukommen lässt.

Doch es gibt auch kulturelle Unterschiede. Die Kultur des Menschen kann das in das Herz geschriebene Gesetz Gottes sogar arg entstellen. Nehmen wir das extreme Beispiel der Witwenverbrennung in Indien. Es war (oder ist) teilweise in Indien noch so, dass Witwen nach dem Tod ihres Mannes verbrannt werden. Aus der Zeit, als die Engländer Indien missionierten, ist ein Gespräch zwischen einem Missionar und einem noblen Inder bekanntgeworden. Dabei empört sich der Missionar über diesen Brauch. Der Inder dagegen rechtfertigt sich, dass sich dieser Brauch seit Generationen bewährt habe. Auf die Frage des Missionars, was des Inders Gewissen dazu sage, rechtfertigt sich letzterer wiederholt mit der Aussage, dass der Brauch in Ordnung sei.

Das Beispiel lässt vermuten, dass das Gewissen des Menschen unter anderem kulturabhängig ist. Das Beispiel zeigt auch, dass man einer Kultur kaum Vorwürfe machen kann, solange diese nicht erkennt, was biblischen gesehen gut ist. Das Gesetz erregt die Sünde. Ohne Gesetz gibt es keine Sünde, so Römer 7.

Es ist schwer verständlich, dass Sünde ohne Gesetz nicht existent ist. Heute ist uns klar, was Sünde ist; aber ohne Gesetz könnten wir sie nicht identifizieren. Heute vertreten die Inder meistens die Ansicht, dass die Witwenverbrennung unmenschlich ist; zu dieser Erkenntnis gelangten sie insbesondere mit Hilfe der alt- und neutestamentlichen Denkart.

Wie kann ich den "guten Willen Gottes" ganz praktisch erkennen? Meine Entscheidungen sind in Gottes Augen gut, wenn ich deren Konsequenzen nicht nur mir, sondern auch dem anderen zumuten kann. In Jakobus 2:8 steht es ganz unmissverständlich:

"Wenn ihr wirklich das königliche Gesetz "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst " nach der Schrift erfüllt, so tut ihr recht."

3. Der wohlgefällige Willen Gottes.

Nun gibt es noch zwei weitere Willen Gottes. Fahren wir fort mit dem so genannten "wohlgefälligen Willen Gottes". In Griechisch heisst das Wort "wohlgefällig" euaresto.

Wenn man die Schrift verstehen will, muss man sich auf die im Urtext verwendeten Worte besinnen, Worterkennungen vollziehen. In den Worten steht die Erkenntnis bereist drin. Wenn man ein Wort in der Schrift auseinandernehmen kann, dann ist der Sinn der Aussage sehr gut erkennbar. Es gibt zwei Möglichkeiten des Erkennens:

- Erstens: In welchem Umfeld ist etwas gesagt worden? Wann, wo etc. wurde etwas gesagt? Das geht aus jeder Bibelübersetzung hervor und jeder Übertragung wie Gute Nachricht, Hoffnung für alle etc.

- Zweitens: Was wird im Detail gesagt? Aus den Details können die Geheimnisse gezogen werden. Dazu ist eine sehr gute Übersetzung unabdingbar.

Was heisst nun euarestos. Das Wort geht auf den Stamm aro (aro = zusammenfügen, passend machen, verbinden) zurück. euarestos geht in die Richtung "gut machen", "passend machen" oder "zusammenfügen".

Was soll denn gut gemacht werden, passend gemacht werden, verbunden werden etc.? – Die Menschen sollen in ihrem Denken und Handeln verbunden werden. Der Hauptpunkt ist Einigkeit unter den Menschen.

Plötzlich bin nicht mehr ich das Zentrum oder der Massstab, sondern der Nächste. Der Nächste wird zum Massstab. Wo ich im Leben einen gesteigerten Willen Gottes zu finden suche, muss ich mich dem anderen zuwenden, vom anderen, vom Mitmenschen aus empfinden. Nun ist der Leitvers in Phil 2:3b und 4 massgebend:

", ... sondern dass in der Demut einer den anderen höher achtet als sich selbst; ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern ein jeder auch auf das der anderen."

Vorher hiess es "was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu". Du achtest Dich selbst; der andere profitiert davon. Nun aber ist der andere höher als Du; und du profitierst davon; aber der andere ist das Zentrum.

Wir haben gesehen, dass „der gute Wille" kulturabhängig ist. Auch mit dem „wohlgefälligen Willen" trifft das zu. Nicht umsonst wird den Christen vorgeworfen, dass Mission kulturzerstörend ist. Unsere Gegner haben vielfach recht; aber sie treffen den Geist nicht. Man kann einfach nicht beides haben. Witwenzerstörung und die Gnade Gottes. Das eine schliesst das andere aus ...

Wohlgefällig ist gemeinschaftsfördernd.

Der wohlgefällige Wille Gottes verbindet Menschen, Kulturen, und Generationen. Der Herr will Gemeinschaft zwischen Eltern und Kinder. So steht in Kol. 3:20:

",Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem, denn dies ist wohlgefällig im Herrn." Der nächste Vers (Kol. 3:21), der an die Väter gerichtet wird, fordert diese auf, sich so zu verhalten, dass die Kinder aufmüpfig sein können. Die Kinder sollen rebellisch sein können. Im Griechischen wird das Wort atymosin verwendet werden. In vielen Übersetzungen steht mutlos und scheu. Aber das trifft den Kern nicht. Das griechische Wort geht auf thymos zurück, also auf den "aufwallenden Zorn", das "Aufwallen der Seele ". Das Gegenteil davon ist der Grimm, der Groll, der nicht gut ist, weil es sich um den verborgenen, versteckten, den verbitterten Zorn handelt.

Der aufwallende Zorn dagegen ist Voraussetzung, förderlich für eine gesunde Entwicklung der Kinder. Die Bibel sagt uns damit, dass wir für die Kinder ein Umfeld schaffen sollen, in dem sie sich gegen die Eltern gewissermassen auflehnen können, sie sagen können: "Das verstehe ich nicht? Das will ich nicht!"

Damit kommt das gemeinschaftsfördernde auf den Tisch. Der Vater kann dann sagen: "Ich habe meine guten Gründe, warum ich nicht einverstanden bin, dass du mit 15 Jahren bis drei Uhr morgens auf Parties herumhängst." Wenn Du aber dem Kind nicht zugestehst, dass es gegen dich rebelliert, weil es eben gerne nicht vorher heimkommen möchte, dann gibt es keinen Austausch mehr. Dann kannst Du nur sagen: "Es ist so und basta!!!"

Nur der kontroverse Austausch ist gemeinschaftsfördernd. Kinder wollen mit ihren Erziehern um den richtigen Weg streiten: Wenn man ihnen das nicht zugesteht, ziehen sie im Zweifel zu früh von zu Hause aus und gehen oft schmerzliche Wege. Mit Kommunikation gewinnt man die Herzen seiner Kinder, mit falscher Machtdemonstration verliert man sie.

Leider ist die "normale" Schweizer Familie kommunikativ nicht sehr weit fortgeschritten.

Es gibt das Thema "Eltern und Kinder" in der Bibel, aber auch das Thema "Herren und Knechte". Auch hier spricht die Bibel in Titus 2:9 mit dem "wohlgefällig" einen gemeinschaftsfördernden Zusammenhang an.

"Die Sklaven ermahne, ..., sich wohlgefällig zu machen ..."

Die Knechte werden aufgefordert, sich so zu verhalten, dass dies der Gemeinschaft mit dem Herrn nicht abträglich ist. In der Bibel wird das Wort "wohlgefällig" durch alle Stände hindurch verwendet

4. Der vollkommene Wille Gottes.

Nun kommt die Gottes-Komponente. Das griechische teleios wird in den meisten Übersetzungen mit vollkommen übersetzt. Der Stamm von teleios ist telos, was meistens übersetzt wird als „Ziel". Ein Mensch, der reift, wird im Griechischen als zur Vollkommenheit reifend bezeichnet. Vom Wortstamm geht es um zielausgerichtes oder zielorientiertes Leben und dieses natürlich von Gottes Sicht her. Nun bin nicht mehr ich oder der Nächste der Massstab. Vielmehr ist Gott der Massstab.

Im grössten Gebot werden die drei Willen integriert. Einmal ist der Betroffene der Massstab, dann sein Nächster und ebenfalls Gott (Matthäus 22:37-39):

"Er aber sprach zu ihm: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstande." Dies ist das grösste und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.""

Es gibt Momente im Leben, in denen weder mein Dafürhalten, noch das Wohl meines Nächsten, sondern nur noch "Gottes vollkommener Willen" relevant ist. Da kann es sich um eine Entscheidung handeln, unter der mein Nächster und auch ich selbst Schaden nehmen. Aber wir tun es, weil es "Gottes vollkommener Willen" ist. Das wird vermutlich nicht allzu viel in einem Menschenleben vorkommen. (Abraham wurde 175 und Gott hat mit ihm ca.10 Mal in seinem Leben geredet. Das ist nicht viel; aber in der Regel war es sehr substanziell).

Der menschliche Wille – Kann der Mensch Gottes Wille erfüllen?

Die grosse Frage nach der Willensfreiheit bewegt die Menschen seit Jahrtausenden. "Frei bin ich, wenn ich tun kann, was ich will", sagte bspw. Arthur Schopenhauer. "Doch: kann ich auch wollen, was ich will?" fügt er hinzu. Eine interessante Frage....

Uns interessiert, wie die Reformatoren und Bibelübersetzer diese Frage beantworten. Um die Zeit der Reformation standen sich zwei Positionen gegenüber. Die eine ist von einem gläubigen Humanisten, Erasmus von Rotterdam, die andere von Martin Luther. Die beiden haben sich damals teilweise auch ergänzt. Erasmus lieferte Luther die griechischen Texte. Die beiden hatten verschiedene Denkmodelle, waren jedoch nicht etwa verfeindet. Erasmus sagte:

"Gottes Gebote beinhalten Freiheit sie zu tun oder nicht."

Gott legt uns also Gebote vor und wir haben die Freiheit sie zu halten oder eben nicht. Mit Bezug auf Phil. 2.13 (Denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen) entgegnete Luther Erasmus:

"Wenn das stimmt, dann braucht es den heiligen Geist nicht mehr; denn der sogenannte freie Willen kann die Regungen des Herzens zum Bösen nicht allein überwinden."

Gemäss dem Philipperbrief ist also das Wollen des Menschen gewissermassen eingeschränkt, nicht so frei, wie es sich Erasmus wünscht; aber auch Erasmus hat einen Kern Wahrheit in der Annahme, dass wir von Gott mit dem Gesetz ein Verhaltensvorlage erhalten, die wir dann befolgen können oder nicht.

Es stehen gewissermassen zwei Positionen im Raum. Ist es allein meine ethische Verantwortung gegenüber dem Worte Gottes oder muss ich Gott noch um das Wollen, um Beistand bitten, dass ich tun kann, was er möchte.

Diesen Konflikt wird in Römer 7:7 bis Vers 19 formuliert (hier Elberfelder-Übersetzung):

"Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: "Lass dich nicht gelüsten!" (7)

Die Sünde aber ergriff durch das Gebot die Gelegenheit und bewirkte jede Begierde in mir; denn ohne Gesetz ist die Sünde tot. (8)
Ich aber lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf; (9)
ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben gegeben, gerade das erwies sich mir zum Tod.(10)
Denn die Sünde ergriff durch das Gebot die Gelegenheit, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe.(11)
So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut.(12)
Ist nun das Gute mir zum Tod geworden? Das sei ferne! Sondern die Sünde, damit sie als Sünde erschiene, indem sie durch das Gute mir den Tod bewirkte, damit die Sünde überaus Sündig würde durch das Gebot(13)
Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist , ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft;(14)
denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; denn nicht, was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus.(15)
Wenn ich aber das, was ich nicht will, ausübe, so stimme ich dem Gesetz bei, dass es gut ist.(16)
Nun aber vollbringe nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde. (17)
Denn ich weiss, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts gutes wohnt; denn das Wollen ist bei mir vorhanden, aber das Vollbringen des Guten nicht. (18)
Denn das Gute, was ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich."(19)

Nicht was ich will tue ich; sondern die in mir wohnende Sünde tut, was ich nicht will ... Selbst Paulus ist es offenbar nicht gelungen, so zu leben wie er nach dem inwendigen Menschen gerne gewollt hätte. Auch er litt unter diesem Widerspruch und kommt letztlich zum Schluss, dass wir auf die Gnade angewiesen sind. Das geht gemäss dem Konkordanten Neuen Testament aus Römer 7, Vers 24 und 25 explizit hervor:

"Ich elender Mensch! Was wird mich aus dem Körper dieses Todes bergen? (24)
"Gnade! Ich danke Gott durch Jesus Christus, unserem Herrn! ..." (25a)

Und in Römer 8,1 wird es noch klarer:

"Also gibt es jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind. Denn dem Gesetz der Sünder und des Todes."

Was sagt die aktuelle Wissenschaft zur Willensbildung...

des Menschen als nicht abschliessende Betrachtung? Dazu ist ein Buch mit dem Titel "Aus der Sicht des Gehirns" des Neurologen Gerhard Roth lesenswert. Der Autor unterscheidet beim Gehirn zwei Systeme, das limbische und das rationale System. Er sagt, dass das limbische System (Das limbische System steuert das emotionale Verhalten und damit das Motivationsgefüge. Entschlossenes Handeln erfolgt durch das limbische System, das Informationen filtert und Denkprozesse verkürzt.) gegenüber dem rationalen System das erste und das letzt Wort in Entscheidungsprozessen hat: Gemeint ist dabei

- das erste Wort beim Entstehen unserer Wünsche und Ziele,
- das letzte Wort bei der Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand ausgedacht haben, nun auch so getan werden soll.

Vernunft und Verstand denken sich etwas; aber das limbische System regt diese Gedanken erst an; Vernunft und Verstand erarbeiten eine Strategie; aber das limbische System entscheidet in Kenntnisnahme des Resultats vielleicht trotzdem ganz anders. In uns spielen sich zwei Prozesse ab, ein rationaler Prozess und ein Entscheidungsprozess, der dem rationalen Prozess vorangeht und nachgeht.

Etwas plakativ gesagt spielt sich z.B. Folgendes ab: Wir spüren ein Bedürfnis, Müdigkeit oder Lust nach Schokolade. Das limbische System lässt den Wunsch nach Schokolade entstehen. Der Wunsch wird an das bewusste System weitergeleitet. Die Information geht ins Grosshirn, das dann den Prozess auslöst, die Schokolade zu beschaffen (z.B. an den Kiosk gehen). Danach gibt das limbische System den Befehl zum Verzehr.

In unserem Gehirn gibt es sogenannte Basalganglien, die für wichtige funktionelle Aspekte motorischer, kognitiver und limbischer Regelungen von grosser Bedeutung sind. Sie bewirken das Bereitschaftspotential zum Handeln. Das limbische System ist eine emotionale Lernmaschine. Wir lernen nicht nur rational, sondern auch emotional. In diesem System ist auch das Handlungsgedächtnis enthalten. Es sortiert in gut und schlecht, erfolgreich und weniger erfolgreich. Es sagt zum Beispiel, da hast du in Vergangenheit mehr Schokolade gefunden als an einem anderen Ort.

Dadurch dass das limbische System das erste und das letzte Wort hat, sind rationale Überlegungen zu hinterfragen. Dadurch dass die Gefühlskomponente in unserem Denken und Wollen derart stark ist, gerät das rationale eher in den Hintergrund. Roth sagt sogar: "Der blosse Appell an die Vernunft bringt selten etwas." Wenn eine Raucherin hört, rauchen sei der Gesundheit abträglich, ändert das ihr Verhalten vermutlich kaum; wenn sie dagegen hört, dass ihre Haut beim Aufhören schöner würde, dann horcht sie auf ... Der Ansatz über das Gefühlspotential ist stärker. Schlechte Werbung ist rational, gute irrational. Die Erkenntnis ist nicht neu. Schon Blaise Pascal sagte: "Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt".

Aus dieser Perspektive können wir Römer 7 gut verstehen. Eigentlich sind hier Verstand und Herz entgegengesetzt. Wir sind zerrissen, weil es in uns verschiedene Willensbildungsentwicklungen und -grundlagen gibt.

Dem Alltagsverständis nach gehen wird davon aus, dass wir etwas wollen, was wir im Anschluss daran tun; aber die Forschung sagt auf der Grundlage von fundierten Tests, dass das Bereitschaftspotential dem Willensentschluss zur Tat stets ein Drittel bis eine halbe Sekunde vorausgeht. Meine Tat ist meinem Willen zeitlich immer etwas vorangestellt. Es ist wie bei der Sonne. Wir sehen das Licht gegenwärtig so, wie die Sonne vor Minuten geschienen hat. Gerhard Roth geht noch weiter und sagt: "Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen was wir tun."

Im Zusammenhang mit den erwähnten Positionen von Erasmus und Luther geben die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse Luther recht. Allein die vernunftmässige Befolgung des Gesetzes ist nicht möglich. Luther betont, dass wir dazu den heiligen Geist benötigen. Wir tun letztlich Gottes Willen, weil wir eine emotionale Bindung zu Gott haben. Das Gesetz sagt. Tue es, halte es und du wirst leben; aber die Gnade sagt, lebe und du wirst es tun. Die Gnade macht unser Herz fest (vgl. Hebr. 13:9).

"Lasst euch nicht fortreissen durch verschiedenartige und fremde Lehren; denn es ist gut, dass das Herz durch Gnade befestige werde, ..."

Der geheime und der geoffenbarte Gotteswille.

'Das Geheimnis ist des Herrn...aber was offenbart ist, das ist unser...' 5.Mose 29,28(29).

Dem Gesamtwillen Gottes kann kein Geschöpf entgehen. Entweder entspricht das Geschöpf im Gehorsam dem Worte Gottes gegenüber den dort enthüllten Forderungen oder es übertritt sie aus Bosheit, Torheit oder Unvermögen.

Entweder erntet es Segen und (inneren) Frieden oder Fluch und Gericht. In beiden Fällen erfüllt es aber immer die verborgenen, geheimen Gnadenabsichten Gottes.

Da Gott - gemäss seines Wesens - ausschliesslich Liebesabsichten hat, hilft das Geschöpf Gottes 'verhüllte Liebesabsichten' zu erreichen.

1. Beispiel:
Römer 11,11+12 sagt zum Thema 'Israel' : '...sind sie darum angelaufen, dass sie fallen sollten? Das sei ferne! Sondern aus ihrem Fall ist den Heiden (Nationen) das Heil widerfahren, auf dass sie denen nacheifern sollten. Denn so ihr Fall der Welt Reichtum ist...wie viel mehr wenn ihre Zahl voll würde?'

Gottes Liebesabsichten mit seinem (noch) verstocktem irdischen Volk werden eines Tages vor den Augen der ganzen Welt erfüllt werden!

2. Beispiel:
Ebenso zeigt die Geschichte um 1.Mose 50,20 die geheimnisvollen Wege Gottes mit seinem irdischen Volk auf, die Geschichte von Josef und seinen Brüdern:

'Ihr gedachtet's böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, dass er täte wie es jetzt am Tage ist, zu erhalten viel Volks.'

Durch des jungen Josefs Träume waren Gottes Wege schon ganz allgemein aufgezeigt worden, wurden aber durch Neid und sonstiges menschliches Fehlverhalten vorerst verhindert. In dem Moment, in dem Josefs Brüder Gottes Rettungsplan für die Zukunft des ganzen Volk Israels torpedierten (siehe 1.Mose 37,19+20), trat sein 'geheimer Wille' in Aktion! Gerade diese 'Josefsgeschichte' zeigt auch klar auf, mit wieviel (unnötigem!) Leid die Liebeswege Gottes verbunden sind, wenn sie von der offenliegenden, geoffenbarten Liebes-Rettungsline abweichen...

3. Beispiel:
Es ist die Geschichte des Propheten Jona.

Wohl kein anderes alttestamentliches Buch ist so bekannt - als Ganzes - wie das Büchlein Jona. Es ist dazu noch eines, das abrupt abbricht - was es um so geheimnisvoller macht...

Jesus vergleicht Jonas' Tod und Auferstehung mit der eigenen im Matthäus-Evangelium 12,38-41. Vers 40 sagt: 'Denn GLEICHWIE Jona war drei Tage und drei Nächte in des Walfisches (besser: Meerungeheuers) Bauch, also wird des Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte mitten in der Erde sein.' War Jesus nicht drei Tage nach seinem Tod im Totenreich? War er etwa nicht 'richtig' tot? Unsinn: sonst wäre ja die Kern-Botschaft von seinem Kreuzestod und seiner Auferstehung, die Kern-Botschaft zu unserer Erlösung hinfällig und wir die 'elendigsten' unter allen Menschen, die sich im Glauben darauf abstützen (1.Korinther 15,19)!

Mit diesen Überlegungen ist es wirklich seltsam, dass selbst viele christliche Verkündiger oder Künstler Jona gerne als 'Überlebenden' darstellen und nicht als 'Auferstandenen'!

Gottes Wege mit Jona waren klar geoffenbart. 'Gehe nach Ninive und predige!' Jona wollte nicht und 'floh' vor Gott nach Westen, in die entgegengesetzte Richtung. Jedoch nicht lange...die Geschichte ist schnell in der Bibel nachgelesen...Gott brachte ihn mit viel Leid (wieder mit eigentlich ungeplantem Leid!) zurück nach Osten, in die richtige Richtung für Ninive. Gottes 'geheimer' Wille war gar nicht so geheim: er wollte Jona in Ninive haben. Für seine Liebesabsichten mit Ninive! Der eher lieblose Jona ahnte wohl Gottes Liebesabsicht, war aber nicht einverstanden mit ihr und versuchte sie zu verhindern. Er schien der für Israel bedrohlichen Heidenstadt Ninive nichts Gutes zu gönnen, denn in Kapitel 3,10 bis 4,2 beschwerte er sich darüber, dass die Niniviten auf seine Predigt hin Busse taten (von ihren falschen Wegen umkehrten). Steht - unausgesprochen im Buche Jona - hinter seiner lieblosen Haltung gegenüber Ninive die liebende Haltung seinem eigenen gerichtsreifen und sündigen Volk gegenüber? Ninive wurde als Hauptstadt der zukünftigen assyrischen Eroberer Israels und 'Geissel Gottes' von anderen Propheten genannt.

Wäre Ninive vorher umgekommen, hätte Israel nicht unter ihr später so leiden müssen...war dies Jonas Motiv für seinen Ungehorsam? Was immer auch gewesen wäre, eines ist klar: nimmt sich Gott was vor, offenbart er es auch. Amos 3,7 sagt '...denn der Herr tut nichts, er offenbare denn sein Geheimnis den Propheten seinen Knechten'. Und dass er seinen geoffenbarten Willen auch dann durchführt, wenn Menschen ihn zu verhindern suchen, dürfte auch klar sein...dann kommt die Zeit des geheimen Willen Gottes zum Zuge.

Wie oft mag wohl in unserem Leben heute dieser Wechsel von klar ersichtlichem Willen Gottes - in seiner vierfältigen Art - und weniger klarem Willen Gottes stattgefunden haben? Wo sind wir aus Eigenwillen durch mehr Leid durchgegangen als nötig war? Es ist nötig, hin und wieder innehalten und diese Frage zu bewegen.